Dieses Dokument ist auch in einer PDF Version verfügbar (Adobe Reader wird benötigt).


Stufen des Wissens

Prof. Dr. Kurt Dressler
Prorektor für das Doktorat der ETH Zürich


70. Promotionsfeier der ETH Zürich
8. Juli 1994



Liebe neue Doktorinnen und Doktoren

Zum erfolgreichen Abschluss Ihres Doktorats gratuliere ich Ihnen herzlich. In mehrjähriger Arbeit haben Sie gelernt, was es heisst, wissenschaftliches Neuland zu betreten und Wege zu erkunden, die zuvor noch niemand eingeschlagen hat. Vielleicht haben Sie die von früheren Entdeckungsreisenden erstellten Landkarten in Frage gestellt und revidiert.

Auch die heutige Feier ist eine Gelegenheit, Kompass und Karte hervorzunehmen, unseren Standort zu bestimmen und das nächste Ziel anzuvisieren. In solchen Situationen ist es meist sinnvoll, als nächstes Ziel eine Anhöhe zu ersteigen, möglichst oberhalb der Baumgrenze, damit sich der Horizont unseres Gesichtsfelds erweitert und wir einen Überblick über unsere nähere und weitere Umgebung gewinnen. Eine Horizonterweiterung im übertragenen Sinn brauchen wir auch immer wieder in kritischen Stadien unserer wissenschaftlichen Lernprozesse, unserer beruflichen Laufbahn, und unserer allgemeinen Lebensumstände. Dieses allgemeine und lebensnotwendige Orientierungswissen fällt uns ja nicht automatisch mit unserem Doktorstudium zu. Im Gegenteil: In der Dissertation müssen wir meistens den Blick auf ein eng umgrenztes Problem konzentrieren. Dabei besteht die Gefahr, dass es auch nach dem Doktorat zur Gewohnheit wird, sich innerhalb eines recht engen Horizontes wohl zu fühlen und sich nicht von dem ganzen Reichtum und der Vielfalt des wissenschaftlichen sowie ausserwissenschaftlichen Umfelds verwirren zu lassen.

Gerade wir rationalistischen Vertreter der knallharten Disziplinen der ETH sind in besonderem Masse der Gefahr ausgesetzt, gegenüber den Anforderungen des Lebens früher oder später zu versagen, nämlich gegenüber den Anforderungen, in welchen es auch auf unsere seelische Lern- und Tragfähigkeit ankäme, wie z.B. im gesamten Umfeld der zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es in Ehe, Familie, Gemeinde, Staat, oder am Arbeitsplatz. Beobachtungen dieser Art haben einen kleinen Kreis von ETH-Dozenten vor zehn Jahren motiviert, für junge Mitarbeiter und Doktoranden in den Semesterferien eine achttägige Klausur zum Thema «Naturwissenschaft und die Ganzheit des Lebens» vorzubereiten. Die erste dieser sogenannten Cortona-Wochen, im Herbst 1985, war eine abenteuerliche Reise in völliges Neuland und forderte den Organisatoren einigen Mut ab. Das Konzept hat sich aber von Anfang an so bewährt, dass in diesem Spätsommer bereits die siebente dieser Wochen angeboten werden kann.

Sowohl das wissenschaftliche als das sinnorientierte Wissen sind durch eine lebenslang fortschreitende Entwicklung gekennzeichnet, die einer stufenweisen Erweiterung unseres Bewusstseinshorizontes entspricht. Resultate einer wissenschaftlichen Studie solcher Entwicklungsstufen sind 1981 von James Fowler publiziert worden. Das von Fowler vorgestellte Stufenmodell beruht auf seiner Auswertung umfangreicher Interviews mit 360 Personen aller Altersund Bildungsstufen, Weltanschauungen, Rassen, und beiderlei Geschlechts, aufgenommen von Fowler selbst sowie von Mitarbeitern der Harvard University und vier weiteren Universitäten in Atlanta, Boston, Chicago und Toronto.

Einige zentrale Schlussfolgerungen von Fowlers Studie sind den Teilnehmern der ersten Cortona-Woche 1985 in einem Vortrag von David Steindl-Rast, einem studierten Anthropologen und Psychologen, vorgestellt worden. Ich versuche nun, einige seiner Gedanken, zum Teil in seinen Worten, zum Teil in meinen eigenen, hier weiterzugeben.

Dem Modell der Entwicklungsstufen liegt die Idee zugrunde, dass es entlang jeder Entwicklung etwas gibt, das gleich bleibt, und etwas, das sich ändert. Die schrittweise Erweiterung unseres Bewusstseinshorizontes ist begleitet von einem bleibenden Sinngehalt und einem veränderten Gehäuse des Wissens. Unser Bewusstseinshorizont schliesst sowohl das Wissen als die Sinngebung ein. Hindernis auf dem Entwicklungsweg ist unsere Angst vor Neuem, gemäss dem in Amerika üblichen Spruch unter Wissenschaftern: Don't confuse me with facts! Verwirr mich nicht mit neuen Tatsachen! Endlich habe ich alles schön in meine Theorie eingeordnet, und jetzt kommt da Neues, das doch nur Unordnung in mein Modell bringen kann. Triebfeder auf dem Weg, der weiter führt, ist Vertrauen und Mut, sich der Veränderung zu überlassen. Wissenschafter, welche sich der Ganzheit des Lebens positiv aussetzen, haben keine Angst vor neuen Erfahrungsweisen der Wirklichkeit. Sie werten Krisen als Chancen für Wachstum. Für den gereiften Menschen erweist sich die Entwicklung als ein Fortschreiten von Verstehen zu Wissen - zu Weisheit. Denn wir wissen mehr als wir verstehen. Ja, je mehr wir wissen, desto weniger verstehen wir, bis sich – in den Worten von Steindl-Rast – Wissen und Verstehen wieder in der Weisheit treffen.

Jeder Übergang aus einer der Entwicklungsstufen in die nächste hat die drei charakteristischen Merkmale einer Krise: Die Krise ist ein Sieb, durch dessen Löcher es nur hindurch und weiter geht, wenn man 1. das loslässt und opfert, was nicht durch die Löcher mitgenommen werden kann, wenn man 2. das Lebensfähige mit nimmt, und 3. die lauernden Fallen, aus denen es nicht weitergeht, vermeidet. Denn jedes mal besteht die Gefahr, dass man in eine Sackgasse gerät, anstatt die Entwicklung zu vollziehen.

«Seid klug wie die Schlangen»: Die Schlangen häuten sich, wenn die Zeit kommt, da ihre alte Haut ihrem inneren Wachstum nicht mehr genug Raum bieten kann.  Wie bei den Schlangen kommt in unserem Leben wiederholt eine Häutungszeit, in der wir das Gehäuse unseres bisherigen Bewusstseinshorizontes durchbrechen müssen, um die Konflikte, in denen wir mittendrin stehen, von aussen betrachten zu können. Nur so, aus einer umfassenderen Sicht, können wir Konflikte positiv verarbeiten und sie in die notwendigen inneren Wachstumsschübe einmünden lassen. Das bedingt jedes mal einen Übergang aus einem vertraut gewordenen aber jetzt zu engen Denkgehäuse in ein nächst grösseres, neues. Es sind ja bekanntlich nicht die Dinge, die uns bedrücken, sondern unsere Sicht der Dinge.  


Entwicklung von Stufe zu Stufe:
A.    Auf einer Stufe mit entsprechendem Bewusstseinshorizont leben
B.    In eine Krise geraten

Entweder:
Opfer / Häutung / Horizonterweiterung / Übergang auf nächste Stufe

Oder:

Verweigerung des Opfers und in Falle / Sackgasse geraten



Wir werden nun die Häutungsprozesse, welche von Stufe zu Stufe führen, im einzelnen betrachten.

0.    Fowlers Stufenmodell beginnt mit dem Säuglingsalter. Er nennt dieses Stadium eine Vorstufe, weil er es, im Gegensatz zu allen nachfolgenden Stadien, nicht mit Hilfe direkter Interviews erfasst hat. Es ist eine Zeit des Aufbaus eines grundlegenden Vertrauens und Zugehörigseins, das nicht in Frage gestellt wird. Die Mutter oder Bezugsperson ist immer zuverlässig da, wenn ein Bedürfnis besteht. Ein Horizont und ein differenziertes Wissen besteht noch gar nicht, denn das Bewusstsein ruht noch in der All-Einheit.

Der Übergang aus dieser Vorstufe zu Fowler's Stufe 1 kann in einem erweiterten Sinn als «Entwöhnung» bezeichnet werden: Die Nahrung, aber auch alle die anderen Bedürfnis-Stiller, kommen nicht mehr immer selbstverständlich in dem Moment, in dem sie gebraucht werden. Es ist gewissermassen der Übergang aus dem AII-Eins-Sein ins Allein-Sein. Die Entwicklung in die nächste Stufe erfordert als Opfer das Loslassen des AII-Eins-Seins. Als lebensfähiger Wert der Vorphase mitgenommen wird das aufgebaute Vertrauen und Zugehörigsein. Als Sackgasse lauert entweder ein frühkindlicher Narzismus, bei dem die Erfahrung, «Mittelpunkt» zu sein, weiter dominiert, als Folge übertriebener Verwöhnung, oder der Rückzug in die Isolation als Folge grober Vernachlässigung.

1.    Fowlers Stufe 1 deckt die frühe Kindheit bis etwa ins 6. oder 7. Lebensjahr. Dieses Stadium ist gekennzeichnet durch einen spontan selbstentworfenen Phantasie-Horizont, der sich um das Ich dreht und sich in der Phantasi~ ständig ändert. Die Phantasie richtet sich nach dem jeweiligen momentanen Wunsch. Der positive Wert dieser Phase ist die Entwicklung einer reichen Imagination und die Begegnung mit einem Reichtum an Symbolen.

Die 2. Krise, gewöhnlich etwas ums 7. Jahr, wird durch den Zusammenstoss der Phantasie mit der Realität ausgelöst. Z.B. die Aufklärung über den Osterhasen, oder über die Person, die im Samichlauskostüm steckt. Die alte Haut, die abgeworfen werden muss, ist die phantasiebefangene Selbstbezogenheit, der frühkindliche Egozentrismus. Beibehalten wird die Einbildungskraft, die jetzt in die Geschichten einfliesst, in den Mythos. Die Gefahr in dieser Krise ist das Stecken bleiben in einer Phantasie-Besessenheit, die sich in ungehemmten Schreckensbildern oder in einer exzessiven Tabu-Besessenheit äussern kann.

2.     Fowlers Stufe 2 deckt normalerweise das Primarschulalter, also von etwa 7 bis 12 Jahren. Der neue Horizont ist das Heim, die Familie, das Anvertraute, und das Wissen ist mythenbefangen. Die Wahrheit ist so stark, dass nur der Mythos, die Geschichten, die Dichtung die Kraft haben, sie in dieser Lebensphase auszudrücken. Mythen sind die dichterische Ausdrucksweise der Wahrheit. Dieses Stadium ist geprägt durch Hören und Erzählen von Geschichten, Mitten-drin-Sein in den Geschichten: Man kann sie noch nicht von aussen beurteilen und über ihren Sinn nachdenken. Alles wird wörtlich genommen. Verbote und Gebote werden ungeheuer ernst genommen. Schon in diesem Stadium bleiben einige Erwachsene stecken: Eine Verstümmelung des Lebens.

Der 3. Übergang fällt in die Phase der Pubertät. Die Krise wird aus gelöst durch Konflikte zwischen dem wörtlichen Inhalt der Mythen und der Realität. Die abzuwerfende Haut ist das Wörtlich-Nehmen der Mythen. Die Entwicklung führt zum Sinn der Geschichten. Eine der zu vermeidenden Fallen ist das Steckenbleiben im Wörtlichnehmen der Mythen, was zu Borniertheit und Bravheit führt – oder zu einem Gefühl, versagt zu haben, weil man nicht brav ist. Die andere Falle ist die Entwurzelung wegen gänzlichen Fallenlassens der Mythen.

3.     Aus den Autoritätskonflikten der Pubertät führt die Entwicklung auf Fowlers Stufe 3, in welcher der Horizont die Gemeinschaft von Gleichgesinnten ist. Dieser Horizont ist sehr verbindlich und innerhalb der Gemeinschaft sehr verbindend. Es besteht noch kein Bewusstsein, einen Horizont zu haben. Die Anderen ausserhalb der eigenen Gemeinschaft werden nicht für voll genommen. Wichtiges Symbol ist die Fahne als unreflektiertes Symbol der Gemeinschaft. Diejenigen, welche die Fahne übermässig verehren und diejenigen, welche sie verbrennen, stehen auf der gleichen Entwicklungsstufe.

Die 4. Krise wird ausgelöst durch das Ausziehen aus der Gemeinschaft, jedenfalls sich dem Andersartigen aussetzen und erfahren: Der eigene Horizont ist nicht der Horizont der andern. Zurückgelassen im Häutungsprozess wird jetzt die Überzeugung, dass das eigene ererbte Weltbild das einzig gültige ist. Die Entwicklung führt zu einem entmythologisierten Weltbild. Die Falle ist entweder eine Verweigerung des Nest-Verlassens, oder ein exzessives sich Verlassen auf die eigenen doktrinären, dogmatischen Überzeugungen. Man kann jetzt entweder die ererbte Weltdeutung ganz fallen lassen, oder eine neue Weltdeutung suchen, z.B. in einer anderen Kultur, oder die ererbte Weltdeutung bewusst als die eigene praktizieren.

4.     Das Weltbild der 4. Stufe ist ein bewusst persönlich verantwortetes und kritisch reflektiertes. Persönliche Verantwortung ist jetzt von zentraler Bedeutung. Dieses Stadium ist das am weitesten vom All-Eins-Sein entfernte. Es ist geprägt durch Klarheit, durch Logik, durch Ideologie, ausgedrückt in scharfen Begriffen. In Fowlers Studie hatten knapp die Hälfte der Dreissigjährigen diese Stufe erreicht.

Die 5. Krise tritt selten vor der sogenannten «Lebensmitte» ein. Sie wird ausgelöst durch ein Lautwerden beunruhigender innerer Stimmen. Das Leben erweist sich als grösser als die Logik, die Klarheit entspricht nicht dem Leben. Alles war bis jetzt im Leben sehr zweckvoll, aber ist es auch sinnvoll? Scharfe Begriffe machen nur wissend, aber sie stiften keinen Sinn. Das weiterführende Opfer ist das Aufgeben der netten Selbstkonsistenz des bisherigen Weltbilds. Das Leben ist interessanter als all das Widerspruchsfreie. Die Falle ist entweder Zwang zur Normalisierung oder anarchistische Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. Die Weiterentwicklung beruht auf einer Rückwendung zu tieferen, symbolischen Inhalten der Kindheitsmythen auf einer höheren Ebene.

5.     Der Horizont auf der 5. Stufe ist der relativierte Horizont des Entdeckungsfahrers, und das Weltbild ist das paradoxfreudige Zugehörigsein des Weltbürgers zu der einen Welt. Der Entdeckungsfahrer hat jeden Tag einen neuen Horizont und jeder Horizont ist gleich gültig, aber der jeweils gegebene Horizont ist nicht gleichgültig. Die ganze Vergangenheit wird jetzt überarbeitet und es eröffnet sich die neue Fülle einer sogenannten «zweiten Naivität» auf höherer Stufe.

Die Weiterentwicklung, aus der 5. Stufe erfasst nur sehr wenige Menschen. Dieser 6. Übergang wird ausgelöst durch die Konfrontation mit der Zerissenheit der Welt. Die Falle ist entweder Resignation oder Fanatismus. Das Opfer ist unser Anteil an der Zerrissenheit der Welt, d.h. wir selbst. Wenn wir bereit sind, uns hinzugeben, kann die Entwicklung weiter führen.

6.     Auf der 6. Stufe ist der Horizont radikal uneingeschränkt, d.h. er weitet sich zum ganzen Himmel aus. Wenn wir bereit sind, uns zu verlieren, finden wir uns in der All-Einheit. Dieses Ziel mag unerreichbar sein, aber es ist beschreibbar, es ist ein sinnvolles Ziel für den einzelnen Menschen, für die Menschheit, für die Wissenschaft, und für die Suche nach Sinn und Orientierung. Der Weg auf dieses Ziel hin entspricht einem Fortschreiten von der Fragmentierung zur Einheit. «Das ist eine schöne Herausforderung, der wir uns stellen wollen.» Mit diesem Satz hatte Steindl-Rast seinen Cortona-Vortrag abgeschlossen.



Stufe
Krise

0    Undifferenziert
«Entwöhnung»

1    Phantasiebefangen
Phantasie/Realität

2    Mythenbefangen
Pubertät

3    Doktrinbefangent
Flügge werden

4    Vernunftbefangen
Lebensmitte

5    Weltbefangen
Missratene Welt

6    Selbstaufgabe


Horizont
(Sackgassen)

Horizontblindheit
(Narzissmus oder Isolation)

Ich
(Phantasiebesessenheit)

Familie
(Bravheit oder Entwurzelung)

Gemeinschaft
(Im Nest bleiben oder Dogmatismus)

Persönliches Weltbild
(Zwang zur Normalität oder Enttäuschung)

Viele Horizonte
(Resignation oder Fanatismus)

Allumfassend



Erkenntnis ist ein Prozess, in welchem die scharfe Trennung zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt aufgehoben wird. Erkenntnis ereignet sich, wo das Erkennende und das Erkannte zu einem einzigen werden. «Wenn ihr die zwei zu eins macht», dann werdet ihr in die Wahrheit und in die Ganzheit und in die Einheit eingehen.

Interessanterweise hat der Weg von der Fragmentierung zur Einheit eine Parallele in der fortschreitenden Erweiterung unseres physischen Horizontes, vom momentan gegebenen Gesichtsfeld, über den Rundblick vom Aussichtsberg, hinaus zu den Enden des geographisch kartierten Horizonts, über das Bild des blauen Planeten Erde, zum Sternenhimmel, über die Galaxien und Quasare, bis an den Rand des sichtbaren Universums, und über diesen hinaus bis zum letztendlichen, imaginierten Horizont der physikalischen All-Einheit. Der kosmische Urnebel, der sich unseren Mikrowellenantennen als kosmische Hintergrundstrahlung zeigt, versperrt uns zwar den direkten Durchblick zur Einheit. Er bildet den Horizont des durchsichtigen Teils des Universums und er entspricht einem fernen Frühstadium unserer heutigen lokalen kosmischen Umgebung. Aber in überwältigendem Gegensatz zur heute spriessenden Vielfalt an Leben ermöglichenden hoch differenzierten Strukturen strahlt dieser Urnebel in beinahe vollkommener Strukturlosigkeit und zeigt uns so einen Zustand weitgehender Einheit.

Aber dieses hell leuchtende Gas fast perfekt gleichförmiger Temperatur und Dichte ist nicht die grosse Einheit, von welcher die Physiker träumen und auf welche sie sich am CERN in Genf, am Fermilab in Chicago und in den Studierstuben der Theoretiker einschiessen. In der endgültigen, allumfassenden Einheit verschmelzen alle Aspekte der physikalischen Wirklichkeit zu einer einzigen UR-SACHE. Der unsichtbare Urhorizont liegt jenseits der Sichtbarkeitsgrenze des Universums. Teilaspekte dieser Ur-Einheit werden simuliert in Teilchen-Antiteilchen-Kollisionen in den erwähnten physikalischen Hochenergie-Laboratorien. Am Einheitshorizont selbst, am letzten Ziel physikalischen Strebens nach einer Gesamtsicht, verlieren alle Konzepte ihre Bedeutung. Über die Einheit kann man nichts aussagen, bevor sie sich zu differenzieren beginnt. Da ist weder Raum noch Zeit, weder Energie noch Materie, weder raum-zeitlich ausgebreitetes Kraftfeld noch kompaktes Teilchen. Wenn die Vielfalt auf die Einheit, aus welcher sie sich entfaltet, zurückgeführt ist, haben wir den physikalisch-kosmologisch am weitesten entfernten Horizont erreicht.

Wie wir gesehen haben, entfaltet sich unser Bewusstseinshorizont aus der All-Einheit des Säuglings, erweitert sich stufenweise und strebt schliesslich wieder der radikal unbegrenzten All-Einheit zu. Parallel dazu erweitert sich der physikalisch-kosmologische Horizont auf die Einheit hin. Ist das eine zufällige oder eine bedeutsame Parallele? Diese Frage kann Ihnen niemand beantworten. Falls Sie von ihr überhaupt berührt werden, müssen Sie die Frage selbst bearbeiten. Eine Antwort, die Sie sich nicht zu eigen machen, kann für Sie nicht bedeutsam und lebensbestimmend werden. Es geht hier nämlich um die Frage nach der Bedeutung der manchmal verwirrenden Gespaltenheit und Vielfalt, in welche wir geworfen sind. Gibt es eine bedeutsame Einheit, die dem Ganzen zugrunde liegt? Gibt es eine Orientierung, von der ich mich in meinen entwicklungsnotwendigen Krisen leiten lassen kann?

Auf Ihrem Weg zu neuen Horizonten wünsche ich Ihnen viel positive Erfahrungen und freue mich, dass wir uns jetzt wieder dem Gesang zuwenden dürfen. Manchmal, wenn visuelle Bilder eine adäquate Darstellung der Weltgeheimnisse verweigern, vermag uns das Hinhorchen auf die Klangwelt in Resonanzschwingungen zu heben, welche weiterhelfen.



Literatur:
James W. Fowler: Stages of Faith; Harper & Row, New York 1981. Stufen des Glaubens / Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn; Verlag Mohn, Gütersloh 1991, ISBN 3-579-01750-0.